Zur Geschichte des Hechtsheimer israelitischen Friedhofes

Sonderdruck: Als die letzten Hoffnungen verbrannten 9./10. November 1938 Sonderdruck: Als die letzten
Hoffnungen verbrannten
9./10. November 1938

Unbeachtet von den Vorbeifahrenden oder Vorübergehenden in der Hechtsheimer Heuerstraße, nahe dem Bürgerhaus, befindet sich ein schmiedeeisernes Tor, das zum alten jüdischen Friedhof führt. Wer das Tor öffnet, betritt einen Ort von ungemein dichter Atmosphäre. Grabsteine aus dein 19. und frühen 20. Jahrhundert verwittern da, Gras wächst über ihnen und dies ist nach jüdischem Ritus so in Ordnung. Die Inschriften verraten Emanzipation, Heimatgefühl, sie sind überwiegend deutsch abgefaßt. Die Geschichte dieses kleinen jüdischen Dorffriedhofs - einer von über 60 in Rheinhessen - mag exemplarisch sein für die kleinen dörflichen jüdischen Gemeinden, die vom Naziterror ausgelöscht wurden. Diese jüdischen Dorffriedhöfe lagen am Dorfrand, oft mitten in der Gemarkung. Sie waren von Weinbergen und fruchtbaren Äckern umgeben, waren eingeschlossen, eingebettet in die Dorfgemeinschaft. Die stadtnahen Dorffriedhöfe verdanken ihre Existenz der Schließung des alten Mainzer israelitischen Friedhofes in der Mombacher Straße und der in napoleonischer Zeit zwar vorübergehend erzwungenen, aber 1880 endgültig vollzogenen Belegung des neuen israelitischen Friedhofs, der sich an den christlichen Friedhof aus der napoleonischen Zeit anschloß.

Der Vorstand der israelitischen Gemeinde Hechtsheim richtet in einem an die Großherzogliche Bürgermeisterei Hechtsheim adressiertes Schreiben vom 14. Oktober 18791 das Gesuch, »für Erstellung eines israelitischen Friedhofs in der Gemeinde Hechtsheim Sorge tragen zu wollen«. Begründet wird dieses Begehren mit der Tatsache, daß die seitherige Begünstigung – »die Leichen der verstorbenen Israeliten von Hechtsheim auf dem den Mainzer Israeliten gehörigen Friedlhof überzuführen und daselbst zu beerdigen« nicht mehr beansprucht werden könne. Der in der Mombacher Straße gelegene Friedhof wurde 1880 endgültig geschlossen, nachdem die französische Verwaltung in napoleonischer Zeit bereits 1803 die Schließung betrieben hatte. Die am 29. Oktober 1831 vom Vorstand der Mainzer Jüdischen Gemeinde erlassene Friedhofsordnung2 regelte die Beerdigung der Toten nicht nur aus dem Stadtgebiet, sondern auch aus Kastel, Bodenheim, Laubenheim, Mombach, Bretzenheim, Weisenau, Hechtsheim, Nackenheim, Ober-Olm, Heidesheim und Finthen.

Die Bedingungen dieser Bestattungsmöglichkeit bis 1880 sind erschebar aus einem Antwortschreiben des Hechtsheimer Bürgermeisters vom 20. März 18433 auf eine Anfrage des Großherzoglich- hessischen Kreisrates für den Landbezirk des Kreises Mainz vom 15. März 18424, gerichtet an sämtliche Gemeinden, in denen jüdische Bürger wohnten. Der Fragenkatalog bezieht sich auf das Vorhandensein einer Synagoge, eines Friedhofes - der Organisation der Jüdischen Gemeinde und Wünschennach Veränderungen des bisherigen Kultverbandes. Die Antwort des Hechtsheimer Bürgermeisters, »nach genommener Rücksprache mit den Notabeln der israelitischen hiesigen Gemeinde« sagt,

  1. daß sich in der Gemeinde zwar eine Synagoge, jedoch nur in einem Privathaus befindet,
  2. die Israeliten zwar keinen eigenen Friedhof in der Gemeinde besitzen, dagegen an jenem der Mainzer Judengemeinde angehörig teilhaben, welches Recht sie sich dadurch erwerben, daß jeder Israelit männlichen Geschlechts bei seiner Verheiratung an den Judenvorstand zu Mainz drei Gulden als Einstand und dann jährlich 30 Kreuzer als Beitrag leisten muß,
  3. dieselben für sich eine eigene Gemeinde bilden und mit keiner anderen Gemeinde in Bezug auf Synagoge, Friedhof und sonstige Kultverhältnisse in Verbindung stehen,
  4. daß keine Israeliten aus anderen Gemeinden zum dasigen Kultverband gehören und endlich
  5. die Israeliten der Gemeinde Hechtsheim keine Veränderung ihres bisherigen Kultverbandes wünschen.

Letztere Angabe hatte einen Hintergrund: Die Weisenauer Gemeinde strebte nach einer Vereinigung mit der Hechtsheimer und stieß dabei auf Ablehnung.

Das Schreiben des Hechtsheimer jüdischen Gemeindevorstandes vom 14. Oktober 18795 wurde mehrere Monate nicht beantwortet. Am 21. März 18806 erinnerte er die Bürgermeisterei an das Gesuch und bat um Übermittlung des Beratungsergebnisses im Gemeinderat. Dieser beschloß am 15. April 1880 »für jede israelitische Haushaltung 80 Pfennig jährlich als Beitrag zu Beerdigungskosten aus der Gemeindekasse bezahlen zu wollen«. Unter dem 9. Mai 18807 erklärte sich die Jüdische Gemeinde damit einverstanden, jedoch nur so lange, »als die israelitische Kultusgemeinde von Mainz ihre Anforderungen an uns nicht steigert«. Sonst müsse man mit mehr Forderungen an die Bürgermeisterei herantreten. Zur Feststellung der jährlich anfallenden Summe legt der israelitische Gemeindevorstand (Jakob Selig, Siegmund Selig, Moritz Kapp als Unterzeichner) ein Verzeichnis der israelitischen Haushaltungen zu Hechtsheim bei.8

  1. Kapp, David, Witwer, Privatier
  2. Kapp, Marx, Viehhändler
  3. Kapp, Moses, desgleichen
  4. Kapp, Moritz, desgleichen
  5. Kapp, Siegmund, desgleichen
  6. Kapp, Simon, desgleichen
  7. Muhr, David, Lehrer
  8. Selig, Benedikt, Metzger
  9. Selig, Elias, Makler
  10. Selig, Jakob, Fruchthändler
  11. Selig, Leo, Viehhändler
  12. Selig, Ludwig, Fruchthändler
  13. Selig, Siegmund, desgleichen
  14. Selig, Simon II., Viehhändler
  15. Schlößer, Michael, Händler
  16. Weiß, Abraham, Makler
  17. Weiß, Josef, Witwer, Privatier
  18. Weiß, Isaak, Makler
  19. Weiß, Leopold, Metzger

Die Hechtsheimer Pläne, weiterhin auch den an der Zahlbacher Straße gelegenen neuen israelitischen Friedhof mitbenutzen zu können, nach der bisherigen finanziellen Regelung, für die auch die politische Gemeinde eintreten wollte, zerschlugen sich. Mit Schreiben vom 11. Juli 18819 kündigte der Vorstand der israelitischen Religionsgemeinschaft Mainz endgültig die bisher gestattete Mitbenutzung zum 31. Dezember des Jahres mit dem Hinweis, der »mit schweren Opfern« angelegte neue Friedhof sei verhältnismäßig beschränkt in seinem Umfang. Diesen Sachverhalt teilte am 4. Oktober 188110 der Vorsteher Jakob Selig, der örtlichen Verwaltung mit und wiederholte die Bitte, »für Beschaffung eines geeigneten Begräbnisplatzes alsbald Sorge tragen zu wollen«. Der Gemeinderat lehnte dieses Ansinnen in seiner Sitzung vom 26. Oktober 1881 einstimmig ab und teilte am 30. Oktober 188111 der israelitischen Gemeinde mit, »es sei ihre Sache, sich einen Begräbnisplatz und zwar auf ihre Kosten zu erwerben«. Aufgrund eines Ersuchens der Jüdischen Gemeinde vom 29. Januar 188212 und der Beilage des Verzeichnisses der jüdischen Haushaltungen, laut Gemeinderatsbeschluß vom 15. April 1880 den zukommenden Betrag der Beerdigungskosten aus der Gemeindekasse zukommen zu lassen (80 Pfennige pro Haushaltung), geht die bürokratische Abwicklung voran.

In den nächsten Monaten führt die israelitische Gemeinde Grundstücksverhandlungen. Am 9. Juni 188213 bestätigt das Großherzogliche Kreisamt die Absicht der Hechtsheimer Juden, einen Friedhof anzulegen auf dem Grundstück Flur XIV, Nr. 134 der Gemarkung Hechtsheim und bittet die Bürgermeisterei um Bericht über eventuelle Bedenken polizeilicher Art sowie um Prüfung der Eignung des Grundstückes. Zwei Tage später liegt dieser Bericht dem Kreisamt vor, das am 10. Juli 188214 das Hechtsheimer Rathaus benachrichtigt, daß die Anlage des israelitischen Friedhofes Hechtsheim genehmigt sei »unter der Bedingung genügender Einfriedungn«.

Die Bestattungsliste des israelitischen Friedhofes ist nicht mehr vorhanden. Die letzten Beerdigungen fanden 1935 und 1938 statt. Die vorletzte Bestattung von Eduard Weiß im Jahre 1935 – nach den Nürnberger Gesetzen – war der letzte im Hechtsheimer Brauch durchgeführte jüdische Leichenzug vom Trauerhaus in der Heuerstraße zum jüdischen Friedhof. Der Rabbiner Dr. Sali Levi hielt die Grabrede. Nicht-jüdische Mitbürger, die allen Drohungen der örtlichen Nationalsozialisten zum Trotz das letzte Geleit gaben, zeigten sich noch lange von dieser Rede des Rabbiners beeindruckt. Auf den verstorbenen Frontsoldaten des Ersten Weltkrieges anspielend sagte Dr. Levi, das im Krieg vergossene Blut zähle heute nicht mehr, ein anderes Blut sei gefragt. Damit war angespielt auf die im September 1935 in Nürnberg verabschiedeten Nürnberger Gesetze, die auch Blutschutzgesetze genannt wurden. Im Trauergefolge befand sich auch der Landwirt Martin Klein (Hechtsheim, Bergstraße 22), der seine Teilnahme auch aufrecht verteidigte, als der NS-Bürgermeister ihn offiziell zur Rechtfertigung auf das Rathaus forderte. Die letzte Tote, die hier 1938 ihre Ruhestätte fand, kurz nach den Novemberpogromen, durfte aus dem israelitischen Krankenhaus in der Gonsenheimer Straße nach Auskünften überlebender Gemeindemitglieder nicht den Weg durch das Dorf, sondern den heimlichen Umweg  durch die Gemarkung (Rheinhessenstraße/Heuerstraße) nehmen. Damit war die Ausgrenzung auch der Toten jüdischen Glaubens in Hechtsheim endgültig vollzogen.

Anmerkungen

  1. Stadtarchiv VOA 12/94 f. 1
  2. Schaab. K. A.: Diplomatische Geschichte der Juden zu Mainz, Mainz 1855
  3. 20. März 1842 VOA 12/91 f. 2
  4. VOA 12/91 f. 1
  5. VOA 12/94 f. 2
  6. Ebenda f. 3
  7. Ebenda f. 5 f.
  8. Ebenda f. 6
  9. Ebenda f. 8
  10. Ebenda f. 9
  11. Ebenda
  12. Ebenda f. 10
  13. Ebenda f. 11
  14. Ebenda f. 12

Danke an den Autor Herrn Dr. Anton Maria Keim und des Verlages Hermann Schmidt Mainz GmbH und Co. KG (Herrn Bertram Schmidt-Friderichs) http://www.typografie.de, für die Genehmigung der Veröffentlichung auf meiner HP.